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"Herr Handke, entschuldigen Sie sich bei den Opfern von Srebrenica. Heute!" steht auf einem Plakat, das die Gesellschaft für Bedrohte Völker vor dem Stockholmer Konzerthaus entrollt hat. Drinnen feiern 1.560 Gäste die Verleihung des Literaturnobelpreises an Olga Tokarczuk und Peter Ha.... Nicht nur Handke, auch das Nobelpreiskomitee hatte Empörung auf sich gezogen. Warum verleiht es die höchste Auszeichnung, die in der Welt der Literatur zu vergeben ist, ausgerechnet einem Schriftsteller, der in seinen Büchern Kriegsverbrechen relativiert? Wie konnte das Komitee dem Unsinn aufsitzen, Dichtung und Wahrheit, Werk und Autor hätten nichts miteinander zu schaffen?

Wenn nicht alles täuscht, dann markiert die Nobelpreisvergabe an Tokarczuk und Handke eine lehrreiche Zäsur. Der Streit entzündete sich ja nicht nur an Handkes Parteinahme für den Kriegstreiber Slobodan Milošević; er entzündete sich ebenso am Verhältnis von Kunst und Politik. Die Debatte darum ist uralt, und ihr Ergebnis lässt sich in einer schlichten Formel zusammenfassen: Die Literatur ist souverän. Sie ist das regellose Spiel der Einbildungskraft und weder eine Filiale der Moral noch eine der Politik. Alles andere ist nicht Literatur, sondern Gesinnungskitsch.

Ist das alles? Leider nicht. In die Rede von der Autonomie der Kunst hat sich ein folgenreicher Irrtum eingeschlichen, nämlich die Annahme, ihre heiligen Wahrheiten dürften auf keinen Fall durch öffentliche Deutungen behelligt, kritisiert oder, wie Handke im ZEIT-Interview sagt, "denunziert" werden. Das klingt zwar vornehm, ist aber muffige Kunstreligion. Sie sperrt die Literatur in den Tabernakel einer fingierten Weltlosigkeit, macht ihre Lektüre steril und zieht der Kritik den Zahn. Doch ausgerechnet die beiden Literaturnobelpreisträger, nicht nur Olga Tokarczuk, sondern, verblüffend genug, auch Peter Handke, haben in ihren Stockholmer Reden vorgeführt: Gerade dann, wenn sich Schriftsteller ihrer reinen literarischen Fantasie überlassen, verbinden sie das Ästhetische mit dem Politischen. Das Thema der Kunst ist nicht die Kunst. Es ist die reale Welt. Die Aktualität.



Bei Olga Tokarczuk kommt die Welt durchs Radio, die kleine Kiste ist der große Begleiter ihrer Kindheit. Sie hörte alle möglichen Stationen: Luxemburg, Paris, Prag, New York, Moskau, Madrid, dazwischen Knistern und Rauschen und viele schwarze Löcher, Funklöcher. Das Radio erschließt ihr den Kosmos der Außenwelt; verschiedene "Sonnensysteme und Galaxien" sprechen mit ihr, sie spürt die "süße Nähe der Ewigkeit". Im Kind reift ein lückenhaftes, aber doch planetarisches Bewusstsein, ein Bild vom Ganzen der menschlichen Welt. Das Kind weiß jetzt: In der Zivilisationsnatur hängt alles mit allem zusammen, und es spürt, dass es ein lebendiger Teil davon ist. Das Kind kann nun sagen "Ich bin".






Ein halbes Menschenalter später blickt die erwachsene Schriftstellerin noch einmal auf den Kosmos ihrer Kindheit, doch das Große und Ganze ist zerbrochen – die Informations-Kaskaden, die das Internet fieberhaft ausspuckt, verbinden sich nicht mehr zu einer Einheit. Das "Flüstern der Welt" verstummt, die mediale Weltbeheimatung funktioniert nicht mehr. Die Digitalmoderne, sagt Tokarczuk, liefert keine verbindlichen kollektiven Bilder, keine "Erzählung der Zukunft", zumeist nur Trennendes, nur Hass und Zwietracht und Fake-News. Im Chaos der Gegenwart flüchtet jeder auf seine Identitätsinsel, in den Winzkosmos des Privaten. Mit einem gewissen Recht feiert die Literatur die Ich-Perspektive, doch die Figuren, die sie hervorbringt, sind keine Gleichnisse mehr, keine Parabeln, nur sprachlos einsame Solisten – sie stehen für nichts mehr, nur für sich selbst. Das egozentrierte Leben stirbt ab, doch wir merken es nicht und verwandeln uns in Zombies.

Auch der Overload an Filmserien schafft kein Bild vom Ganzen, ihre Geschichten spiegeln bloß den Zustand der Welt, die schlechte Unendlichkeit. Die serielle Wiederholung des Immergleichen hypnotisiert den Zuschauer, auch hier gibt es keine Katharsis, erst recht nicht das so dringend benötigte Bewusstsein davon, dass auf diesem winzigen Planeten alle Menschen von allen abhängig sind.

Worauf hofft Olga Tokarczuk also? Sie hofft auf die machtlose Macht der Imagination – auf einen neuen zärtlichen Erzähler, auf ein kommendes Genie, eine "vierte Person". Ihr soll das Unwahrscheinliche gelingen: Sie soll eine Perspektive erfinden, die der kosmischen Imago des Kindes nahekommt. Noch einmal soll die zerrissene Weltgesellschaft als Ganzes erscheinen, als eine über die Räume und Zeiten hinweg lebendige, sich immer wieder neu bildende Einheit, deren Teil wir sind.