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cultură şi spiritualitate

Goethes Einzigartigkeit

Goethes Biographen haben häufig auf die Einzigartigkeit und enge Verwobenheit von Goethes Leben und Werk aufmerksam gemacht. Im Untertitel seiner Biographie – Kunstwerk des Lebens – hat Rüdiger Safranski dies auf des Punkt gebracht. Georg Simmel zentrierte seine Goethe-Monographie von 1913 auf die exemplarische geistige Existenz Goethes mit der Verkörperung einer unverwechselbaren Individualität.[172] Der George-Schüler Friedrich Gundolf widmete seine Monographie von 1916 der „Darstellung von Goethes gesamter Gestalt, der größten Einheit worin deutscher Geist sich verkörpert“, und in der „Leben und Werk“ nur als verschiedene „Attribute einer und derselben Substanz“ erscheinen.[173] Das Wort vom „Olympier“ kam schon zu Goethes Lebzeiten auf.[174] Weniger blumenreich spricht der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler in seiner umfangreichen Goethe-Studie von einem „kreativen Genie“[175] und umreißt seinen unglaublich weiten Gesichts- und Aktivitätskreis:

„Da gibt es Liebe und Freundschaft und Haß und Reisen und Feste und Krieg und Nächstenliebe; da gibt es Goethe den Höfling, den Abenteurer, den Wissenschaftler (Physiker, Mineraloge, Botaniker, Meteorologe, Anatom und Biologe), den Lehrer, den Liebhaber, den Ehemann, den Vater, den Verwalter, den Diplomaten, den Direktor der Theater und Museen, den Maler und Zeichner, den Zeremonienmeister, den Philosophen und den Politiker – und ich habe noch nicht einmal den Dichter und Dramatiker erwähnt, den Romancier, den Übersetzer, den Briefeschreiber und Kritiker.[176]

Goethes „gegenständliches Denken“

Ein zusammenhängendes Weltbild bei Goethe zu vermuten wäre falsch; angemessener ist es von seinem Weltverständnis zu sprechen. Er hat sich aus den Bereichen Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft Wissensbestände in einem Umfang und einer Breite angeeignet wie kein Dichter seiner Zeit, aber dieses Wissen nicht zu einem System vereinigt. Gleichwohl ging er von der Einheit des menschlichen Wissens und der Erfahrungen aus, vom Zusammenhang von Kunst und Natur, Wissenschaft und Poesie, Religion und Dichtung. „Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ“, bekannte er in seinem Aufsatz Einwirkung der neueren Philosophie (1820). Damit bezeugte er seine Abneigung gegen begriffliche Abstraktionen, in deren Sphäre er sich nicht wohlfühlte. Die aus den verschiedensten Wissensbereichen übernommenen Befunde und Erkenntnisse befruchteten und bereicherten jedoch fast alles, was er schrieb.[177]

Für das Verständnis seines philosophischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Denkens sind „Anschauung“ und „gegenständliches Denken“ aufschlussreiche Schlüsselbegriffe. Goethe bestand darauf, durch Anschauung und Nachdenken Erkenntnisse zu gewinnen, auch über „Urphänomene“ wie die „Urpflanze“.[178] „Anschauung“ hieß für ihn der empirische Bezug auf die Phänomene durch Beobachtung und Experiment; darin folgte er der induktionistischenMethode von Francis Bacon.[179] „Gegenständliches Denken“ ist die auf Goethe gemünzte Formulierung des Leipziger Psychiatrieprofessors Heinroth, die Goethe in seinem Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort dankbar aufgriff.[180] „Lernbegier an den Dingen“ nannte es Andreas Bruno Wachsmuth, der langjährige Präsident der Goethe-Gesellschaft.[181] Goethe stimmte Heinroth auch darin zu, „daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei“. Im weiteren Gedankengang seines Aufsatzes bezog er dieses Denken sowohl auf seine naturwissenschaftlichen Forschungen als auch auf seine „gegenständliche Dichtung“.

Naturverständnis

Der Goetheforscher Dieter Borchmeyer ist der Ansicht, dass Goethe die meiste Zeit seines Lebens der Naturwissenschaft gewidmet hat.[182] Jedenfalls war Goethes gesamtes Leben von einem intensiven Umgang mit der Natur gekennzeichnet, wobei sein Zugang ein doppelter war: fühlend und erlebend als Künstler, anschauend und analysierend als Gelehrter und Naturforscher.[183] Für Goethe war die Natur in ihren unendlichen Facetten unmöglich als Ganzes zu erfassen: Sie „hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos“.[184]Sein „Naturdenken“ liefert den Schlüssel zum Verständnis seiner intellektuellen Biographie wie seines literarischen Werkes.[185] Andreas Wachsmuth zufolge erhob Goethe „die Natur als Erlebnis- und Erkenntnisbereich zur höchsten Bildungsangelegenheit des Menschen“.[186]

Seit den Straßburger Jahren und angestoßen von Herder wies Goethe der Natur in seinem Leben einen zentralen Stellenwert zu. Waren es zuerst unter dem Einfluss von RousseauKlopstock und Ossian das Naturerleben und das Naturgefühl, die ihn berührten, entwickelte sich ab 1780 in Weimar ein zunehmendes Interesse an Naturforschung und Naturwissenschaften. Der Philosoph Alfred Schmidt nennt es den vollzogenen „Schritt vom Naturgefühl zum Naturwissen“.[187] Als naturbeobachtender Gelehrter forschte Goethe in vielen Disziplinen: MorphologieGeologieMineralogieOptikBotanikZoologieAnatomieMeteorologie. Dabei beschäftigten ihn, wie er sich rückblickend gegenüber Eckermann äußerte, „solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten“.[188]

Zu seinen Schlüsselbegriffen zählten Metamorphose und Typus einerseits, Polarität und Steigerung andererseits. Die Metamorphose verstand er als einen allmählichen Formwandel innerhalb der Grenzen, die der jeweilige Typus („Urpflanze‘‘, „Urtier“) setzt. Der Wandel erfolgt in einem kontinuierlichen Prozess des Anziehens und Abstoßens (Polarität), der eine Steigerung zu Höherem herbeiführt.[189]

Im pantheistischen Gedanken, Natur und Gott identisch zu denken, verknüpften sich Natur- und Religionsverständnis Goethes.

Religionsverständnis

Abgesehen von einer kurzen Phase der Annäherung an pietistische Glaubensvorstellungen, die ihren Höhepunkt während Goethes Rekonvaleszenz von einer schweren Erkrankung in den Jahren 1768–1770 fand, blieb er gegenüber der christlichen Religion kritisch eingestellt.[190] Schon früh hatte er dem mit ihm befreundeten Theologen Johann Caspar Lavater in einem Antwortbrief 1782 beschieden, er sei „zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber ein dezidirter Nichtkrist“.[191]Der Goetheforscher Werner Keller fasst Goethes Vorbehalte gegen das Christentum in drei Punkten zusammen: „Die Kreuzessymbolik war für Goethe ein Ärgernis, die Lehre von der Erbsünde eine Entwürdigung der Schöpfung, Jesu Vergottung in der Trinität eine Blasphemie des einen Gottes.“[192]

Laut Heinrich Heine nannte man Goethe „den großen Heiden […] allgemein in Deutschland“.[193] In seiner durchweg optimistischen Sicht auf die menschliche Natur konnte er die Dogmen von Erbsünde und ewiger Verdammnis nicht akzeptieren.[194] Seine „Weltfrömmigkeit“ (ein Begriff von Goethe aus Wilhelm Meisters Wanderjahre) brachte ihn in Gegensatz zu allen weltverachtenden Religionen; alles Übernatürliche lehnte er ab.[195] In seiner großen Sturm- und Drang-OdePrometheus fand Goethes religiöse Rebellion ihren stärksten dichterischen Ausdruck.[196] Nicholas Boyle sieht in ihr Goethes „explizite und wütende Absage an den Gott der Pietisten und den verlogenen Trost ihres Erlösers“.[197] Heißt es in der zweiten Strophe des Rollengedichts „Ich kenne nichts Ärmer’s / Unter der Sonn’ als euch Götter“, dann steigert sich die prometheische Revolte am Ende der siebenstrophigen Ode zur trotzigen Herausforderung von Zeus, dem Prometheus entgegenschleudert: „Hier sitz ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / Zu leiden, weinen, / Genießen und zu freuen sich, / Und dein nicht zu achten, / Wie ich.“

Zwar beschäftigte Goethe sich intensiv mit Christentum, Judentum und Islam und deren maßgeblichen Texten, doch wandte er sich gegen jedeOffenbarungsreligion und gegen die Vorstellung eines persönlichen Schöpfer-Gottes. Der Einzelne müsse das Göttliche in sich selber finden und nicht einer äußeren Offenbarung aufs Wort folgen.[198] Der Offenbarung setzte er die Anschauung entgegen. Navid Kermani spricht von einer „Religiosität der unmittelbaren Anschauung und allmenschlichen Erfahrung“, die „ohne Spekulation und fast ohne Glauben“ auskomme.[199] „Natur hat weder Kern noch Schale / Alles ist sie mit einem Male“, heißt es in Goethes Gedicht Allerdings. Dem Physiker. von 1820, womit er betonte, dass die Natur in der Gestalt zugleich ihr Wesen zeige. AufFriedrich Heinrich Jacobis Schrift gegen Spinoza hatte er 1785 geantwortet, ein göttliches Wesen könne er nur in und aus den Einzeldingen erkennen, Spinoza „beweist nicht das Dasein Gottes, das Dasein ist Gott“.[200] In einem weiteren Schreiben verteidigte er Spinoza mit den Worten: „Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten […] und überlasse euch alles was ihr Religion heisst“.[201]

In seinen Naturstudien fand Goethe die Grundfesten der Wahrheit. Immer wieder bekannte er sich als Pantheist in der philosophischen Tradition Spinozas und alsPolytheist in der Tradition der klassischen Antike.[202]

„Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten.“

– Maximen und Reflexionen[203]

Einem Reisenden gegenüber, berichtet Dorothea Schlegel, habe Goethe erklärt, er sei „in der Naturkunde und Philosophie ein Atheist, in der Kunst ein Heide und dem Gefühl nach ein Christ“.[204]

Die Bibel und der Koran, mit dem er sich zur Zeit der Dichtung am West-östlichen Divan beschäftigt hatte, waren ihm „poetische Geschichtsbücher, da und dort mit Weisheiten durchsetzt, doch auch mit zeitgebundenen Torheiten“.[205] Religionslehrer und Dichter sah er als „natürliche Gegner“ und Rivalen an: „die religiösen Lehrer möchten die Werke der Dichter ‚unterdrücken‘, ‚bei Seite schaffen‘, ‚unschädlich machen‘.“[206] Abgelöst von den Dogmen fand er in der Ikonographie und der erzählerischen Tradition aller bedeutenden Religionen, einschließlich des Islam und des Hinduismus, reiche Quellen für seine poetischen Symbole undAllusionen; die stärksten Zeugnisse davon liefern der Faust und der West-östliche Divan.[207]

Goethe liebte die plastische Darstellung der antiken Götter und Halbgötter, der Tempel und Heiligtümer, während ihm das Kreuz und die Darstellung gemarterter Leiber geradezu verhasst waren.[208]

„Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge / Duld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut. / Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider, / Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und Kreuz.“

– Venezianische Epigramme 66[209]

Dem Islam begegnete Goethe mit Respekt, aber nicht kritiklos.[210] In den Noten und Abhandlungen um besseren Verständnis des West-östlichen Divans. kritisierte er, Mohammed habe seinem Stamme „eine düstere Religionshülle übergeworfen“; dazu zählte er das negative Frauenbild, das Wein- und Rauschverbot und die Abneigung gegen die Poesie.[211]

Kirchliche Zeremonien und Prozessionen waren ihm „seelenloses Gepräge“ und „Mummereien“. Die Kirche wolle herrschen und brauche dazu „eine bornierte Masse, die sich duckt und die geneigt ist, sich beherrschen zu lassen“.[212] Die ganze Kirchengeschichte sei ein „Mischmasch von Irrtum und von Gewalt“.[213]Gleichwohl sah er im Christentum „eine Ordnungsmacht, die er respektierte und die er respektiert sehen wollte“.[214] Das Christentum sollte zwar den gesellschaftlichen Zusammenhang im Volk fördern, doch für die geistige Elite war es aus Goethes Sicht überflüssig,[215] denn: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / hat auch Religion; / wer jene beiden nicht besitzt, / der habe Religion.“[216]

Andererseits war ihm die Vorstellung der Wiedergeburt nicht fremd. Sein Unsterblichkeitsglaube basierte jedoch nicht auf religiösen, sondern philosophischenPrämissen, etwa auf der Leibnizschen Konzeption der unzerstörbaren Monade oder der Aristotelischen Entelechie.[217] Aus dem Gedanken der Tätigkeit entwickelte er im Gespräch mit Eckermann die These, dass die Natur verpflichtet sei, „wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, […] mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag“.[218]

Ästhetisches Selbstverständnis

Als Rezensent der von seinem Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck geleiteten Frankfurter Gelehrten Anzeigen setzte sich Goethe in seiner Sturm und Drang-Periode mit der Ästhetik des damals einflussreichen Johann Georg Sulzer auseinander. Dem traditionellen ästhetischen Prinzip, dass Kunst Nachahmung der Natur sei, stellte Goethe in seiner frühen Ästhetik das Genie gegenüber, das in seinem schöpferischen Ausdruck selbst wie die Natur schaffe.[219] Dichterisches Schaffen sei Ausdruck ungezügelter Natur und Shakespeare deren personifizierte Schöpferkraft.[220]

Nach seiner Rückkehr aus Italien gewannen für Goethe die Gedanken der Autonomieästhetik, die Karl Philipp Moritz in der Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) niedergelegt hatte, große Bedeutung.[221] Diese Schrift war Goethe zufolge aus Gesprächen zwischen ihm und Moritz in Rom hervorgegangen. Sie postulierte, dass das Kunstwerk keinem Fremdzweck diene und der Künstler keinem dienstbar sei,[222] sondern als Schöpfer mit dem Erzeuger des Universums auf einer Stufe stehe. In diesem Anspruch fand Goethe auch die Lösung seines Dilemmas zwischen höfischer und künstlerischer Existenz: Als Schöpfer literarischer Schönheit lässt sich der Künstler durch einen Mäzen versorgen, ohne damit dessen Zwecken zu dienen.[223]

Im Gegensatz zu Schiller lehnte er es ab, poetische Werke als Gestaltung von Ideen zu begreifen. Mit Blick auf den Faust fragte er rhetorisch, was wohl das Ergebnis gewesen wäre, „wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im ‚Faust‘ zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!“ Dem fügt sich die im gleichen Gespräch von Eckermann festgehaltene Äußerung Goethes: „jeinkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser“.[224] Auch Denis Diderots Ansicht, dass die Kunst eine getreue Nachbildung der Natur vermitteln solle, lehnte er ab. Er bestand auf der Unterscheidung von Natur und Kunst. Ihm zufolge organisiert die Natur „ein lebendiges gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber ein bedeutendes, die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares. Zu den Werken der Natur muß der Beschauer erst Bedeutsamkeit, Gefühl, Gedanken, Effekt, Wirkung auf das Gemüt selbst hinbringen, im Kunstwerk will und muß er alles schon finden.“[225] Der Kunst, so resümiert Karl Otto Conrady, ist ein entscheidendes Mehr vorbehalten, das sie von der Natur abhebt. Der Künstler fügt der Natur etwas hinzu, was ihr nicht zu eigen ist.[226]

Schiller hatte in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung – einer für die „Selbstdefinition der Weimarer Klassik“ sehr wichtigen „dichtungstypologischen Abhandlung“[227] – Goethe als naiven Dichter charakterisiert und ihn in eine Ahnenreihe mit Homer und Shakespeare gestellt. In den naiven Dichtern sah Schiller ein Streben zur „Nachahmung des Wirklichen“, ihr Objekt sei die vom Dichter durch Kunst geschaffene Welt. Demgegenüber sei das Schaffen des sentimentalischen Dichters selbstreflexiv auf die „Darstellung des Ideals“ der verlorenen Natur gerichtet.[228] Goethe, der Realist und Optimist, versagte es sich auch, seine Dramen und Romane mit Tod und Katastrophe enden zu lassen. In einem Brief an Schiller vom 9. Dezember 1797 bezweifelte er, dass er „eine wahre Trägödie schreiben könnte“.[229] Seine Dramen und Romane enden meist untragisch mit Entsagung, so der Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre mit dem bezeichnenden Untertitel Die Entsagenden. In den Wahlverwandtschaften gestaltete er (in der Person Ottilie) das Thema der Entsagung ins Asketische und Heilige; diesen Roman führte er zu einem tragischen Ende.[230]

Mit seiner Wortprägung von der „Weltliteratur“ setzte der späte Goethe den partikulären Nationalliteraturen eine „allgemeine Weltliteratur“ entgegen, die „weder dem Volke noch dem Adel, weder dem König noch dem Bauer“ gehöre, sondern „Gemeingut der Menschheit“ sei.[231] In seiner literarischen Produktion samt Übersetzungen aus den wichtigsten europäischen Sprachen demonstrierte Goethe die Spannweite seines ästhetischen Zugriffs auf Literaturen Europas, des Nahen und Fernen Ostens und der Klassischen Antike in eindrucksvoller Weise. Von der Rezeption persischer und chinesischer Lyrik geben die Gedichtzyklen West-östlicher Divan und Chinesisch-deutsche Tages- und Jahreszeiten Zeugnis.[232] Goethe stand in brieflichem Kontakt mit europäischen Schriftstellern, so mit dem schottischen Essayisten und Verfasser von The Life von Schiller (1825), Thomas Carlyle, mit Lord Byron und dem Italiener Alessandro Manzoni. Er übersetzte die Memoiren des Renaissance-Goldschmieds Benvenuto Cellini und Diderots satirisch-philosophischen Dialog Rameaus Neffe. Regelmäßig las er ausländische Journale wie die französische Literaturzeitschrift Le Globe, die kulturgeschichtliche italienische Zeitschrift L'Eco und die Edinburgh Review.[233] Gerhard R. Kaiser vermutet, dass in Goethes Äußerungen über Weltliteratur die Verfasserin von De l’Allemagne. (Über Deutschland. 1813), Madame de Staël, die 1803 Weimar einen Besuch abgestattet hatte, unausgesprochen präsent sei, weil ihr Werk den sich zu Goethes Zeiten vollziehenden weltliterarischen Prozess beschleunigt habe.[234]

Im Gespräch mit Eckermann postulierte er: „National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche als den der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“[231] Während er in seinen letzten Jahren die neuere deutsche Literatur kaum einer Erwähnung für würdig befand, las er „aus Frankreich BalzacStendhalHugo, aus England Scott und Byron,und aus Italien Manzoni“.[235]

Werk

Das künstlerische Werk Goethes ist vielfältig. Den bedeutendsten Platz nimmt das schriftstellerische Werk ein. Daneben stehen das zeichnerische Werk mit über 3.000 hinterlassenen Arbeiten, die 26-jährige Theaterdirektion in Weimar und nicht zuletzt die Planung des „Römischen Hauses“ im Park an der Ilm.[236] Sein Werk übergreifen und durchdringen seine Ansichten zur Natur und zur Religion und sein ästhetisches Verständnis.

Lyrik

 HauptartikelGoethes Lyrik

Von seiner Jugend bis ins hohe Alter war Goethe Lyriker. Mit seinen Gedichten prägte er die literarischen Epochen des Sturm und Drangs und der Weimarer Klassik. Ein großer Teil seiner Lyrik erlangte Weltgeltung und gehört zum bedeutendsten Teil des lyrischen Kanons der deutschsprachigen Literatur.

Im Laufe von etwa 65 Jahren schrieb er mehr als 3000 Gedichte, die teils eigenständig, teils in Zyklen wie den Römischen Elegien, dem Sonettenzyklus, dem West-östlichen Divan oder der Trilogie der Leidenschaft erschienen. Das lyrische Werk zeigt eine erstaunliche Formen- und Ausdrucksvielfalt und entspricht der Weite des inneren Erlebens. Neben langen, mehrere hundert Verse umfassenden Gedichten stehen kurze Zweizeiler, neben Versen mit hoher sprachlicher undmetaphorischer Komplexität einfache Sprüche, neben strengen und antikisierenden Metren liedhafte oder spöttische Strophen sowie reimlose Gedichte in freien Rhythmen.[237] Mit seinem lyrischen Gesamtwerk hat Goethe das deutschsprachige Gedicht „erst eigentlich geschaffen“ und Vorbilder hinterlassen, an denen sich nahezu alle nachfolgenden Dichter gemessen haben.[238]

In seiner lyrischen Produktion hat Goethe sich alle aus der (alten und neuen) Weltliteratur bekannten Formen dieser literarischen Gattung mit metrischer Virtuosität zu eigen gemacht. Sein poetisches Ausdrucksvermögen wurde ihm so selbstverständlich „wie Essen und Atmen“.[239] Bei der Zusammenstellung seiner Gedichte ist er selten chronologisch vorgegangen, sondern nach Kriterien der thematischen Kohärenz, wobei sich die einzelnen Gedichte gegenseitig ergänzen, aber auch widersprechen konnten. Das stellt die Goetheforschung bei der Publikation seines lyrischen Werks in kritischen Gesamtausgaben vor große Probleme. Eine Gliederung, die sich als einflussreich erwiesen hat und leicht zugänglich ist, ist die von Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe.[240] Die beiden von Trunz herausgegebenen Bände sind im ersten Band, Gedichte und Epen I, in leicht chronologischer Ordnung gegliedert: Frühe GedichteSturm und DrangGedichte der ersten Mannesjahre. Die Zeit der Klassik. Alterswerke. Der zweite Band, Gedichte und Epen II. enthält den West-östlichen Divan und die Versepen Reineke Fuchs.Hermann und Dorothea und Achilleis.

Epik

Das epische Werk Goethes umfasst, wie das dramatische, fast alle Formen der epischen Literatur: die Tierfabel (Reineke Fuchs), das Versepos (Hermann und Dorothea), die Novelle (Novelle), den Roman (Die WahlverwandtschaftenWilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre) und Briefroman (Die Leiden des jungen Werthers), den Reisebericht (Italienische Reise) und autobiographische Schriften (Dichtung und WahrheitCampagne in Frankreich).

Goethes erster Roman, Die Leiden des jungen Werthers, wurde zu einem der größten Erfolge der deutschen Literaturgeschichte. Der Verfasser bediente sich einer für das 18. Jahrhundert typischen Erzählform, des Briefromans. Aber er radikalisierte dieses Genre, indem er keinen Briefwechsel zwischen Romanfiguren darstellte, sondern einen monologischen Briefroman schrieb.[241] In Dichtung und Wahrheit bekennt er, dass er mit dem Roman zum ersten Mal von seinem Leben dichterischen Gebrauch gemacht habe.[242] Mit der empfindsamen Gestaltung seiner unerfüllten Liebesgeschichte mit Charlotte Buff in Wetzlar löste er eine regelrechte „Werther-Mode“ aus. Man kleidete sich wie er (blauer Gehrock, gelbe Hosen, braune Stiefel), redete und schrieb wie er. Auch gab es zahlreichesuizidale Nachahmer, denen Werthers Freitod als Vorbild diente (siehe Werther-Effekt). Seinen frühen europäischen Ruf verdankte er diesem Roman, der 1800 in den meisten europäischen Sprachen greifbar war.[243] Selbst Napoleon kam bei der historischen Begegnung mit Goethe am 2. Oktober 1808 in Erfurt auf dieses Buch zu sprechen.[244]

Eine zentrale Stellung in Goethes epischem Werk nehmen die Wilhelm Meister-Romane ein. Der Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre galt den Romantikern als epochales Ereignis und „Paradigma des romantischen Romans“ (Novalis),[245] den realistischen Erzählern als „Auftakt zur Geschichte des Bildungs- undEntwicklungsromans“ im deutschsprachigen Bereich.[246] Insbesondere den realistischen Erzählern wie Karl ImmermannGottfried Keller und Adalbert Stifter, später auch Wilhelm Raabe und Theodor Fontane diente er als Paradigma für die poetische Reproduktion der realen Wirklichkeit.[247] Hingegen erscheint das SpätwerkWilhelm Meisters Wanderjahre durch seine offene Form, mit dem tendenziellen Verzicht auf die inhaltliche Instanz eines zentralen Helden und allwissenden Erzählers, als ein „hochmodernes Kunstwerk“, welches dem Leser „eine Vielzahl von Rezeptionsangeboten macht“.[248] Der erst posthum (1911) veröffentlichte Vorläufer Wilhelm Meisters theatralische Sendung – ein fragmentarischer „Urmeister“ – steht inhaltlich noch dem Sturm und Drang näher und wird formal dem Genre des Theater- und Künstlerromans zugeordnet.[249] Unter diesem Genre hatten die Romantiker schon Wilhelm Meisters Lehrjahre rezipiert.[250]

Die Wahlverwandtschaften hat Goethe in einer Konversation als sein „bestes Buch“ bezeichnet.[251] In einer Art experimenteller Anordnung bringt er darin zwei Paare zusammen, deren naturgebundenes Schicksal er nach dem Modell chemischer Anziehungs- und Abstoßungskräfte gestaltet, indem er deren Gesetzmäßigkeit den Beziehungen zwischen den beiden Paaren unterlegt. Eine Ambivalenz von sittlichen Lebensformen und rätselhaften Leidenschaften bestimmt das Romangeschehen. Der Roman erinnert an Goethes ersten Roman, den Werther, vornehmlich durch den „unbedingten, ja rücksichtslosen Liebesanspruch“ einer der Hauptpersonen (Eduard), „im Kontrast mit dem selbstbeherrschten Verzicht“ der anderen.[252] Thomas Mann sah in ihm „Goethe’s ideellstes Werk“,[253]das einzige Produkt größeren Umfangs, das Goethe, seinem Selbstzeugnis zufolge, „nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet“ habe.[254] Das Werk eröffnete die Reihe europäischer Ehe(bruch)romane: Flauberts Madame Bovary, Tolstois Anna Karenina, Fontanes Effi Briest. Es wurde als unmoralisch kritisiert, obwohl der Autor den Ehebruch nur gedanklich vollziehen lässt.

Die Italienische Reise veröffentlichte Goethe Jahrzehnte nach seiner Reise. Sie ist kein Reisebuch im üblichen Sinne, sondern eine Selbstdarstellung in der Begegnung mit dem Süden, ein Stück Autobiographie. Im Erstdruck erschien sie 1816–1817 als „Zweite Abteilung“ seiner Autobiographie Aus meinem Leben,deren „Erste Abteilung“ Dichtung und Wahrheit enthielt. Als Grundlage dienten Goethe sein an Charlotte von Stein in losen Folgen geschicktes italienisches Reisejournal und die damaligen Briefe an sie und Herder. Erst 1829 erschien das Werk unter dem Titel Italienische Reise mit einem zweiten Teil: „Zweiter Römischer Aufenthalt“. Darin wechseln redigierte Originalbriefe mit später geschriebenen Berichten.[255]

Mit Dichtung und Wahrheit nahm Goethe im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Abfassung einer großen Autobiographie in Angriff. Deren ursprüngliche Konzeption war eine zur Metamorphose stilisierte Bildungsgeschichte des Dichters. Bei der Arbeit am dritten Teil geriet er mit diesem Interpretationsmodell in die Krise; er ersetzte es durch die Kategorie des „Dämonischen“, mit der er das Unkontrollierbare eines übermächtigen Natur- wie Geschichtszusammenhangs zu erfassen suchte.[256] Die Darstellung kam nicht über die Schilderung von Kindheit, Jugend, Studium und ersten literarischen Erfolgen hinaus.

Dramatik

Goethe hat seit seiner Jugendzeit bis in seine letzten Lebensjahre mehr als zwanzig Dramen verfasst, von denen Götz von BerlichingenClavigoEgmontStella,Iphigenie auf TaurisTorquato Tasso und vornehmlich die beiden Teile des Faust noch heute zum klassischen Repertoire der deutschen Theater gehören. Obgleich seine Theaterstücke die gesamte Spannweite der Theaterformen – SchäferspielFarceSchwankKomödieheroisches DramaTrauerspiel – umfassen, bilden doch die klassischen Dramen und Tragödien den Schwerpunkt seiner dramatischen Produktion. Drei seiner Theaterstücke wurden zu Meilensteinen der deutschen Dramenliteratur.

Mit dem Sturm-und-Drang-Drama Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand gelang Goethe der Durchbruch als Dramatiker; es machte ihn über Nacht berühmt.[257] Zeitgenossen sahen in ihm „etwas von Shakespeares Geist“, ja in Goethe den „deutschen Shakespeare“.[258] Neben dem „Götz-Zitat“ schlug sich auch der auf die Hauptperson gemünzte Ausruf „Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehn“ im sprichwörtlichen Sprachschatz der Deutschen nieder. Ein weiteres historisches Drama, der Egmont, ist gleichfalls um einen einzelnen dominanten Charakter organisiert, auch er in stellvertretender Funktion für den Autor, der seine Werke als „Bruchstücke einer großen Konfession“ verstand.[259]

Das Drama Iphigenie auf Tauris gilt als vorbildlich für Goethes Klassizismus. Goethe selbst bezeichnete es gegenüber Schiller als „ganz verteufelt human“.[260]Friedrich Gundolf sah in ihm sogar das „Evangelium der deutschen Humanität schlechthin“.[261] Die ursprüngliche Prosaversion wurde in der endgültigen Fassung (1787) wie der zur gleichen Zeit vollendete Torquato Tasso, das „erste reine Künstlerdrama der Weltliteratur“,[262] in Blankversen verfasst.

Die Faust-Tragödie, an der Goethe mehr als sechzig Jahre lang arbeitete, bezeichnet der Faust-Experte und Herausgeber des Bandes mit den Faust-Dichtungen in der Frankfurter Ausgabe, Albrecht Schöne, als die „Summe seiner Dichtkunst“.[263] Mit dem Faust griff Goethe einen Renaissance-Stoff über die Hybris des Menschen auf und spitzte ihn auf die Frage zu, ob sich das Streben nach Erkenntnis mit dem Verlangen nach Glück vereinbaren lässt.[264] Heinrich Heine nannte das Faust-Drama „die weltliche Bibel der Deutschen“.[265] Der Philosoph Hegel würdigte das Drama als die „absolute philosophische Tragödie“, in welcher „einerseits die Befriedigungslosigkeit in der Wissenschaft, andererseits die Lebendigkeit des Weltlebens und irdischen Genusses […] eine Weite des Inhalts gibt, wie sie in ein und demselben Werke […] zuvor kein anderer dramatischer Dichter gewagt hat“.[266] Nach der Reichsgründung wurde Faust zum „nationalen Mythos“, zur „Inkarnation deutschen Wesens und deutschen Sendungsbewußtseins“ verklärt.[267] Neuere Interpretationen drängen den überkommenen Deutungsoptimismus des „Faustischen“ mit seiner Vorbildfigur für rastlosen Drang nach Vervollkommnung zurück und verweisen stattdessen auf das „Ruheverbot“ und den „Bewegungszwang“ im modernen Charakter des „Global Player Faust“ hin.[268]

Die auf das französische Drama (vornehmlich das von Pierre Corneille und Jean Baptiste Racine) fixierte Theatertheorie Johann Christoph Gottscheds hat Goethe abgelehnt, wie schon vor ihm Gotthold Ephraim Lessing. Nachdem Herder ihn in Straßburg mit Shakespeares Dramen bekannt gemacht hatte, erschien ihm als Stürmer und Dränger die von Gottsched gemäß Aristoteles geforderte Einheit von Ort, Handlung und Zeit „kerkermäßig ängstlich“ und „lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“.[269] Mit Götz von Berlichingens Bericht von seinem Leben fiel ihm ein Stoff in die Hände, der als „deutschnationale[r] Stoff […] dem englischnationalen Stoff Shakespeares entsprach“.[270] Die im Götz gewählte offene dramatische Form wagte Goethe gleichwohl nur noch im Faust.[271] Albrecht Schöne zufolge ging das Stück schon im ersten Teil „aus den gewohnten dramatischen Fugen“ der „traditionell-aristotelischen Einheitsregeln“; im zweiten Teil seien die „Auflösungserscheinungen unübersehbar“.[272] Die späteren Dramen nach dem Götz näherten sich – unter Lessings Einfluss – dem bürgerlichen Drama (Stella,Clavigo) und klassischen Formen an, letzteres am deutlichsten in der Iphigenie, in der die Einheit des Orts (Hain vor Dianas Tempel) und der Zeit gewahrt wird.[273]

Briefe

Goethe war nach dem Urteil Nicholas Boyles „einer der größten Briefeschreiber der Welt“, der Brief sei für ihn die „natürlichste literarische Form“ gewesen. Etwa 12.000 Briefe von ihm und 20.000 an ihn sind erhalten.[274] Allein der bedeutsame Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller umfasst 1015 überlieferte Briefe.[275]Ungefähr anderthalbtausend Briefe richtete er an Charlotte von Stein.[276]

Zeichnungen

Zeit seines Lebens hat Goethe gezeichnet, „vorzugsweise mit Bleistift, Kohle, Kreide und kolorierter Tinte“, außerdem sind einige frühe Radierungen überliefert.[277]Seine bevorzugten Sujets waren Porträts von Köpfen, Theaterszenen und Landschaften. Hunderte Zeichnungen entstanden während seiner ersten Reise in die Schweiz mit den Stolberg-Brüdern 1775 und auf seiner Italienreise 1786–1788. In Rom lehrten ihn seine Künstlerkollegen das perspektivische Malen und Zeichnen und motivierten ihn zum Studium der menschlichen Anatomie. Er erkannte dabei aber auch seine Grenzen in diesem Metier.[278]

Naturwissenschaftliche Schriften

Ginkgo biloba; Goethe erstellte von diesem Gedicht – unter Hinzufügung zweier getrockneter Ginkgo-Blätter – 1815 eine gesonderte Reinschriftfassung; Erstfassung unter Gingo biloba.
Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens, aquarellierte Federzeichnung Goethes, 1809

Goethes Mittel der Naturerkenntnis war die Beobachtung; Hilfsmitteln wie dem Mikroskop stand er misstrauisch gegenüber:

„Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.“

– Johann Wolfgang GoetheWilhelm Meisters Wanderjahre.[279]

Er war bestrebt, die Natur in ihrem Gesamtzusammenhang mit Einschluss des Menschen zu erkennen. Die Abstraktion, deren sich die Wissenschaft damals zu bedienen begann, betrachtete Goethe wegen der damit verbundenen Isolierung der Objekte vom Betrachter mit Misstrauen. Sein Verfahren ist mit der modernen exakten Naturwissenschaft jedoch nicht zu vereinbaren: „er […] hat den Bereich des unmittelbar sinnlichen Eindrucks und der unmittelbar geistigen Anschauung nicht überschritten in Richtung auf eine abstrakte, mathematisch verifizierbare, unsinnliche Gesetzlichkeit,“[280] stellte der Physiker Hermann von Helmholtz 1853 fest.

Goethes Beschäftigung mit der Naturwissenschaft fand vielfach Eingang in seine Dichtung, so in den Faust und in die Gedichte Die Metamorphose der Pflanzen und Gingo biloba. Der Goethe zeitlebens beschäftigende Faust registriert für den Philosophen Alfred Schmidt, wie „die Abfolge von Gesteinsschichten, die Stadien seiner Naturerkenntnis“.[281]

Die belebte Natur stellte Goethe sich als in ständigem Wandel begriffen vor. So versuchte er in der Botanik zunächst, die unterschiedlichen Pflanzenarten auf eine gemeinsame Grundform, die „Urpflanze“, zurückzuführen, aus der sich sämtliche Arten entwickelt haben sollten. Später richtete er seine Aufmerksamkeit auf die einzelne Pflanze und glaubte zu erkennen, dass die Teile der Blüte und die Frucht letztlich umgebildete Blätter darstellen. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen veröffentlichte er in der Schrift Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790).[282] In der Anatomie gelang Goethe 1784, gemeinsam mit dem Anatomieprofessor Justus Christian Loder, zu seiner großen Freude die (vermeintliche) Entdeckung des Zwischenkieferknochensbeim menschlichen Embryo (ihm war entgangen, dass der Knochen in der Vergangenheit schon mehrmals beschrieben worden war).[283] Der Zwischenkieferknochen, bis dahin nur bei anderen Säugetieren bekannt, verwächst beim Menschen vor der Geburt mit den umgebenden Oberkieferknochen. Sein Nachweis beim Menschen galt damals als wichtiges Indiz für dessen – von vielen Wissenschaftlern bestrittene – Verwandtschaft mit den Tieren.

Seine Farbenlehre (erschienen 1810) hielt Goethe für sein naturwissenschaftliches Hauptwerk und verteidigte die darin vertretenen Thesen hartnäckig gegen zahlreiche Kritiker. Im Alter äußerte er, dass er den Wert dieses Werks höher einschätze als den seiner Dichtung. Mit der Farbenlehre stellte Goethe sich gegen diejenige Isaac Newtons, der nachgewiesen hatte, dass das weiße Licht sich aus Lichtern der unterschiedlichen Farben zusammensetzt. Goethe glaubte dagegen aus eigenen Beobachtungen schließen zu können, „daß das Licht eine unteilbare Einheit sei und die Farben aus dem Zusammenwirken von Hellem und Dunklem, Licht und Finsternis entstünden, und zwar durch die Vermittlung eines ‚trüben‘ Mediums“. So erscheine beispielsweise die Sonne rötlich, wenn sich eine trübe Dunstschicht vor ihr ausbreitet und sie abdunkelt.[284] Schon zu Goethes Zeiten erkannte man allerdings, dass diese Phänomene sich auch mit der Theorie Newtons erklären lassen. Die Farbenlehre wurde in ihrem Kern von der Fachwelt schon bald zurückgewiesen, übte aber auf die zeitgenössischen und nachfolgenden Maler, vor allem Philipp Otto Runge, großen Einfluss aus. Zudem erwies sich Goethe damit als „Pionier der naturwissenschaftlichen Farbpsychologie“. Heute wird „sowohl Newton wie auch Goethe teilweise Recht und teilweise Unrecht“ zugebilligt; beide Forscher seien „Beispiele für unterschiedliche Typen experimentellen Arbeitens innerhalb des Systems der modernen Naturwissenschaft“.[285]

In der Geologie befasste Goethe sich vor allem mit dem Aufbau einer Mineralien-Sammlung, die bei seinem Tode auf 17.800 Steine angewachsen war. Über die Einzelerkenntnis der Gesteinsarten wollte er generelle Einsichten in die materielle Beschaffenheit der Erde und die Erdgeschichte erlangen. Die neuen Erkenntnisse der chemischen Forschung verfolgte er mit großem Interesse. Im Rahmen seiner Zuständigkeit für die Universität Jena begründete er den ersten Lehrstuhl für Chemie an einer deutschen Hochschule.

Niederschriften von Gesprächen

Für die Goetheforschung sind die umfangreichen Niederschriften von Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens,[286]die von Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller[287] und die Mittheilungen über Goethe von Friedrich Wilhelm Riemer[288] von erheblicher Bedeutung für das Verständnis von Goethes Werk und Persönlichkeit. Die von Eckermann nach Goethes Tod in zwei Teilen 1836 und einem dritten Teil 1848 veröffentlichten Niederschriften umfassen den Zeitraum 1823 bis 1832. Der mit Goethe befreundete und als sein Testamentsvollstrecker von ihm bestimmte Kanzler von Müller schrieb erstmals 1808 eine Unterhaltung mit Goethe nieder. In den nachfolgenden Jahren folgten weitere Gesprächsberichte, zunächst in seinem Tagebuch, dann auf gesonderten Blättern ausgearbeitet. Zwei noch zu seinen Lebzeiten 1832 veröffentlichte Gedächtnisreden auf Goethe ließen den Reichtum seiner Goethe-Aufzeichnungen erkennen,[289] die aber erst 1870 gesammelt aus dem Nachlass veröffentlicht wurden.[290] Friedrich Wilhelm Riemer, ein Sprachuniversalist und Bibliothekar in Weimar, war Goethe während dreier Jahrzehnte, zunächst als Hauslehrer seines Sohnes August, sodann als Schreiber und Sekretär zu Diensten. Er gab unmittelbar nach Goethes Tod dessen Briefwechsel mit Zelter heraus und wirkte an den großen Werkausgaben mit. SeineMittheilungen erschienen erstmals 1841 in zwei Bänden.

Übersetzungen

Goethe war ein beflissener und vielseitiger Übersetzer. Er übertrug Werke aus dem Französischen (VoltaireCorneilleJean RacineDiderotde Staël), dem Englischen (ShakespeareMacphersonLord Byron), dem Italienischen (Benvenuto CelliniManzoni), dem Spanischen (Calderón) und dem Altgriechischen (Pindar,HomerSophoklesEuripides). Auch aus der Bibel übersetzte er neu das Hohe Lied Salomons.[291]

Nachkommen

Johann Wolfgang von Goethe und seine Frau Christiane hatten fünf Kinder. Außer August, dem ältesten, wurde eines tot geboren, die anderen starben nach Tagen oder Wochen. August hatte drei Kinder: Walther Wolfgang (* 9. April 1818; † 15. April 1885), Wolfgang Maximilian (* 18. September 1820; † 20. Januar 1883) undAlma Sedina (* 29. Oktober 1827; † 29. September 1844). August starb zwei Jahre vor seinem Vater in Rom. Seine Frau Ottilie von Goethe gebar nach seinem Tod ein weiteres (nicht von August stammendes) Kind namens Anna Sibylle, das nach einem Jahr starb. Ihre Kinder blieben unverheiratet, so dass die direkte Nachkommenslinie von Johann Wolfgang von Goethe 1885 ausstarb. Seine Schwester Cornelia hatte zwei Kinder (Nichten Goethes), deren Nachkommen (Linie Nicolovius) noch heute leben. Siehe Goethe (Familie).

Rezeption

Die Rezeption Goethes als eines Autors, „der wie kaum ein anderer weltweit in alle Lebensbereiche hinein gewirkt und seine prägenden Spuren hinterlassen hat“,[292] ist außerordentlich vielfältig und geht weit über die literarisch-künstlerische Bedeutung seines Werks hinaus.

Rezeption zu Lebzeiten im In- und Ausland

Mit dem Götz von Berlichingen (Erstdruck 1773, Uraufführung 1774) erzielte Goethe einen durchschlagenden Erfolg beim literarisch gebildeten Publikum noch vor der Uraufführung im Berliner Comödienhaus. Für Nicholas Boyle war er „von nun an und für den Rest seines langen Lebens eine öffentliche Gestalt, und sehr bald schon sah man in ihm den prominentesten Vertreter einer Bewegung“,[293] die im 19. Jahrhundert als Sturm und Drang bezeichnet wurde. Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte Goethe als Fünfundzwanzigjähriger mit dem Werther-Roman. Das Werk fand Zugang zu allen Leserschichten und löste eine breite Auseinandersetzung aus, behandelte es doch „zentrale religiöse, weltanschauliche und gesellschaftspolitische Probleme“, die die „Prinzipien bürgerlicher Lebensordnung“ in Frage stellten.[294]

Deutsche Literaturhistoriker unterteilen Goethes Dichtung gewöhnlich in drei Perioden: Sturm und DrangWeimarer Klassik und Alterswerk, während von außerhalb Deutschlands das „Zeitalter Goethes“ als eine Einheit und als Teil des „Zeitalters der europäischen Romantik“ gesehen wird.[295] Als ein Opponent der romantischen Dichtung galt und gilt Goethe der deutschen Literaturkritik – sein Wort „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“[296] gehört zu den häufig zitierten. In der verallgemeinernden Sicht von außen verschwinden diese Differenzen zum Bild einer klassisch-romantischen Periode, die von Klopstock bis Heinrich Heine sich erstreckt und in der Goethe die bedeutende Rolle zukam, die klassischen – von französischer Literatur geprägten – Konventionen mit romantischen Ideen und innovativen poetischen Praktiken durchbrochen zu haben.[297]

Die Wahrnehmung der zeitgenössischen deutschen Romantiker von Goethe war ambivalent. Er war einerseits der „intellektuelle Fokus“[298] der Jenaer Romantiker, die ihn als „wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden“ (Novalis) und seine Dichtung als „Morgenröte echter Kunst und reiner Schönheit“ (Friedrich Schlegel) glorifizierten.[299] Mit ihrem Konzept der Universalpoesie antizipierten sie Goethes Begriff der Weltliteratur. Andererseits kritisierten sie nach ihrer Hinwendung zum Katholizismus den zuvor gepriesenen Wilhelm Meister-Roman als „künstlerischen Atheismus“ (Novalis) und Goethe als „deutschen Voltaire“ (Friedrich Schlegel).[300]

Ebenfalls ambivalent, wenn auch in anderer Weise, würdigte Heinrich Heine in seiner Schrift Die romantische Schule Goethes Persönlichkeit und Dichtung: Er feierte ihn einerseits als Olympier und „absoluten Dichter“, dem alles, was er schrieb, zum „abgerundeten Kunstwerk“ gelang, vergleichbar nur mit Homer und Shakespeare, kritisierte aber andererseits seine politische Indifferenz im Hinblick auf die Entwicklung des deutschen Volkes.[301]

Mit ihrem 1813 erschienenen Buch De l'Allemagne (Über Deutschland) machte Madame de Staël Frankreich und im Gefolge auch England und Italien mit deutscher Kultur und Literatur bekannt. In dem europaweit rezipierten Buch charakterisierte sie die zeitgenössische deutsche Literatur als romantische Kunst mit dem Zentrum Weimar und Goethe als exemplarischer Figur,[302] ja als „größten deutschen Dichter“.[303] Erst danach wurde Weimar auch jenseits der deutschen Grenzen zum Inbegriff deutscher Literatur und „erst danach setzten die Pilgerreisen von Intellektuellen aus ganz Europa an den Frauenplan ein, erst danach kam es zu den internationalen Austauschprozessen, die mit Namen wie ManzoniCarlyle oder Walter Scott verbunden sind“.[304] Gegen Ende seines Lebens fühlte Goethe sich weniger von seinen deutschen als von ausländischen Zeitgenossen akzeptiert, mit denen er in Austausch getreten war und die über seine Werke Artikel publizierten.[305]

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