Einige Zuschauer kommen wahrscheinlich direkt von einer Demo, als sie am Samstagnachmittag das Berliner Maxim Gorki Theater betreten. Hier ist alles dunkelschwarz, es herrscht Trauerstimmung, eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre, aber nicht ohne Widerstandskraft.
Fast ohne Beleuchtung kommt die Bühne aus, auf der prominente Gäste nacheinander Platz nehmen und aus Texten ukrainischer, russischer und belarussischer Autoren lesen, um „der Fassungslosigkeit Form entgegenzusetzen, dem Schweigen die Sprache, dem Gequatsche das Gespräch“, wie Lektorin Katharina Raabe in ihrer Eröffnungsrede verkündet.
Noch nie habe sich eine Veranstaltung so schnell organisieren lassen, wie diese mit dem Titel „Sprachlos die Sprache verteidigen – Lesen für die Ukraine“. Innerhalb von zwei Stunden hätten die Teilnehmer zugesagt, darunter Nobelpreisträgerin Herta Müller, PEN-Präsident und WELT-Autor Deniz Yücel und die Schriftsteller Nora Bossong, Julia Franck und Durs Grünbein. Gelesen werden alte, den Krieg vorwegnehmende oder frühere Kriege verarbeitende, sowie brandaktuelle Texte.
Von Bachmannpreisträgerin Katja Petrowskaja etwa, deren 89-jährige Mutter gerade in einem Schutzraum in Kiew sitzt, während sich ihre Tochter in Armenien aufhält. Oder von der belarussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch, die in ihrem Antikriegsbuch „Zinkjungen: Afghanistan und die Folgen“ Dialoge mit überlebenden Soldaten, Müttern und Witwen dokumentiert: „Uns wurde beigebracht: Wer zuerst schießt, bleibt am Leben. Das ist das Gesetz des Krieges. (…) Wir haben geschossen, wohin man uns befohlen hat, zu schießen (…) Ich habe gesehen, wie innerhalb von Sekunden von einem Menschen nichts mehr übrigbleibt, so als hätte es ihn nie gegeben.“ Wie sich eine Kugel anhört, wenn sie einen Menschen trifft? „Wie feuchtes Schmatzen“.
Auch das Kriegstagebuch, das der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Übersetzer Juri Durkot seit Beginn der russischen Angriffe fortlaufend hier aktualisiert, gehört zu den an diesem Abend vorgetragenen bewegenden Erfahrungsberichten. Über Deniz Yücel lässt Durkot dem Publikum seine Grüße ausrichten.
Einen eindrücklichen Einstieg über den Zusammenhang von Krieg und Sprache macht Herta Müller mit den Worten des in Charkiv lebenden Schriftstellers Serhij Zhadan: „Was ändert der Krieg? Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht, weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt“, heißt es da. „Wohl oder übel musst du mit dem Blick auf den Krieg deine Sprache korrigieren. Denn ein falsches Wort zur falschen Zeit zerstört möglicherweise nicht nur das semantische Gleichgewicht, sondern ein ganz reales Menschenleben“.
Zwischen den poetischen Worten, den Metaphern für Leid, der rhythmisierten Hoffnung, wagen einige der Lesenden klare politische Ansprachen. Nora Bossong etwa drückt ihre Freude darüber aus, dass so viele erschienen sind und ihre Solidarität zeigen – hofft aber, dass dies auch so bleibt, wenn Gewöhnung einkehrt und der Neuigkeitswert der Nachrichten verblasst.
Yurij Gurzhy erzählt von seiner Familie, die sich gerade in Kellern der Hochhäuser in Charkiw befindet, das seit drei Tagen unter Beschuss steht. „Slava Ukraini!“, ruft der Historiker und Osteuropa-Spezialist Karl Schlögel, als er die Bühne betritt. „Ehre den Toten, ehre den Kämpfern und Kämpferinnen in den Straßen von Kiew!“ Mit brechender Stimme sagt er: „In diesem Augenblick der Ohnmacht nehmen wir Zuflucht zu Texten“.
Klare Botschaften
Deniz Yücel betont, dass die Verteidigung der Sprache die Verteidigung der Ukraine nicht ersetzen könne. Er gibt zu bedenken, dass wir heute nicht hier säßen, wenn die Nato nach 2014 die Ukraine als Mitgliedstaat aufgenommen hätte.
„Ich finde es sehr bedauerlich“, sagt Yücel, „dass die Öffentlichkeit niemals ein Foto dieser 5000 Helme gesehen hat, die die Bundesregierung in die Ukraine geschickt hat, weil ich glaube, das wäre ein geradezu ikonografisches Bild gewesen für das Versagen der deutschen Russlandpolitik der letzten 20 Jahre und vielleicht sogar ein Sinnbild für die Hilflosigkeit der liberalen Demokratien gegen die autoritären Regime der Gegenwart schlechthin.“
Katharina Raabe, die Lektorin für osteuropäische Literaturen im Suhrkamp Verlag, freut sich, dass auch russische Stimmen an dem Abend mitwirken, denen es hoffentlich gelinge, noch mehr Menschen in Russland dazu zu bringen, auf die Straße zu gehen und zu protestieren.
Auch der Schriftsteller Durs Grünbein, der Gedichte der Moskauer Lyrikerin Maria Stepanova vorträgt, die seit Längerem kein Visum zur Ausreise bekomme, findet, es gelte jetzt, „eine wichtige Unterscheidung zu treffen: die zwischen Russland und Putin-Land.“ Er hofft, „wir alle können diese Entscheidung noch lange halten.“
Gänzlich aus dem Abend heraus scheinen die Worte zu fallen, die nach Rollenprosa klingen, Worte von der Zerstörung traditioneller Werte, einer Zersetzung des Volkes von innen heraus, von Degradierung und Entartung. Doch wir alle kennen diese Sätze mittlerweile besser als die jedes Schriftstellers.
Worte eines offenkundig Wahnsinnigen
„Diese Worte stammen nicht von einem Dichter, sie sind wenige Tage alt“, erklärt Joachim Helfer, Mitglied des PEN-Präsidiums. „Putin begründet so seinen Krieg. Es sind die Worte eines offenkundig Wahnsinnigen.“ Vorausgesehen habe sie vor dreißig Jahren bereits der Autor Juri Andruchowytsch in seinem Roman „Moscoviada“.
Am Ende des Abends klingen die Worte des Schriftsteller Serhij Zhadan noch lange nach: „Auch Texte bekommen durch den Krieg ein anderes Gewicht.“
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