In dieser kleinen Reihe möchte ich zeigen, dass es verschiedene Arten des Lesens gibt. Dass es nicht nur verschiedene Arten von Texten gibt, die einen unterschiedlichen Zugang erfordern, sondern dass es auch verschiedene Qualitäten des Lesens selbst gibt. Verschiedene Stufen des Lesen Könnens die aufeinander aufbauen und die man beherrschen muss, um schwierige Texte verstehen und komplexe Literatur mit Gewinn lesen zu können.

 

Wir sind eine Buchkultur.

 

Wir sind eine Kultur des Buches und bis vor einer historisch relativ kurzen Zeit waren wir noch fest in ihr verwurzelt.

Das bedeutet, dass in unserer Kultur das Buch das wichtigste Medium war, um unsere Gedanken und Erzählungen aufzubewahren und weiter zu entwickeln. Dadurch hatte es einen massiven Einfluss auf unser Denken und unseren Umgang mit der Realität und reichte bis in die letzten Verästelungen unserer Gesellschaft als Ganzes und in die Psyche jedes einzelnen ihrer Mitglieder.

Ich habe bereits an anderer Stelle dazu geschrieben: Über das Lesen 01

 

Wenn man sich umblickt, dann sieht man, dass wir uns auf dem Weg in eine „illliterale“ Gesellschaft befinden. Richtiger wäre es sogar von einer „nachliteralen“ Gesellschaft zu sprechen, was aufgrund der zu erwartenden Konsequenzen noch besorgniserregender ist.

Ein Großteil der Menschen weigert sich sogar, diese einfache Tatsache anzuerkennen. Lieber klammern sie sich an Bilder wie „auch früher gab es Gesellschaften ohne Bücher“, nur um daraus den falschen Schluss ziehen, dass sich unsere Zukunft durch den Verlust des Buches nicht radikal vom Heute unterscheiden wird.

Aber das ist nur ein Zeichen einer äußerst oberflächlichen Beschäftigung mit der Geschichte. Natürlich gibt es Kulturen ohne Bücher und es gibt auch Kulturen, in denen das Buch einfach als ein weiteres Medium neben vielen anderen existiert.

 

Doch sind das keine Buchkulturen im engeren Sinn. Von einer Buchkultur kann man nur sprechen, wenn das Buch die Deutungshoheit über die Gedanken einer Kultur hat und wenn es das bestimmende Medium für den Umgang mit Wissen und den Zugang zur Welt ist.

Wird diese Aufgabe von einem neuen Medium übernommen, dann entsteht eine andere Art von Kultur und zwangsläufig wird sich auch die Gesellschaft als Ganzes massiv verändern.

 

Was sind die Gefahren, wenn wir unsere Buchkultur verlieren?

 

Ich persönlich habe aus verschiedenen Gründen Angst davor und beweine diesen Verlust.

Mir ist zwar bewusst, dass wir Menschen Jahrtausende in mündlichen Kulturen lebten, dass diese Art des Zusammenlebens vielleicht die natürlichere Lebensform ist und dass es in fast jeder Art von Kultur zu einer kulturellen Hochblüte kommen kann.

Aber ich glaube auch, dass nur eine Buchkultur ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu dieser besonderen Form einer geistigen und menschlichen Reife gibt, wie wir es an ihren herausragendsten Menschen beobachten können. Und dass nur in einer Buchkultur die Werte und Überzeugungen, die sie entwickelten und auf denen unsere Kultur fußt, Bestand haben können.

 

Wenn wir heute den Schritt von einer literalen in eine „nachliterale“ Gesellschaft machen, dann haben wir mit verschiedensten Problemen zu kämpfen, die unser aller Überleben bedrohen.

Eines der wichtigsten erscheint mir, dass wir heute, bedingt durch die hohe Bevölkerungsdichte, kaum noch Rückzugsgebiete haben, um Konflikte zu vermeiden, aber gleichzeitig alle Mittel an der Hand, um die Erde mehrfach zu vernichten.

 

Ein Großteil der heutigen Gesellschaften lebt noch in den Ruinen unserer Buchkultur. Das heißt, wir alle leben noch in einer Kultur, die uns gleichzeitig mit ihren Massenvernichtungswaffen einen moralischen Bezugsrahmen an die Hand gab, der unsere niedersten Triebe unter Kontrolle hielt und uns vor dem Untergang bewahrt.

Wenn wir aber diese Kultur verlassen und damit ihren geistigen und moralischen Bezugsrahmen, dann verlieren wir auf lange Sicht auch die Grundwerte und Überzeugungen die uns prägten und es ist dann so, als würden wir eine Horde wütender Kinder mit geladenen Gewehren auf den Spielplatz schicken.

 

Aber heute werden doch mehr Bücher verkauft als jemals zuvor.

 

Einem Großteil der Menschen erscheint das alles wie eine düstere Prophezeiung. Sie glauben nicht, dass sich die Grundfesten unserer Kultur so stark erschüttern lassen und verlegen sich lieber aufs Leugnen.

 

Ihr liebstes Argument ist, dass heute mehr Bücher verkauft werden als jemals zuvor.

Blickt man auf die reinen Verkaufszahlen, dann kann man dem nicht widersprechen. Was den Menschen jedoch nicht auffällt ist, dass das eine rein quantitative Tatsache ist, die nichts über die Qualität der Literatur und die Bedeutung des Buches aussagt.

Es ist dasselbe als würden sie behaupten, unsere Esskultur ist im Aufschwung begriffen, weil heute mehr gegessen wird als früher.

 

Blickt man auf die Bestsellerlisten, dann sieht man, dass die Bücher mit den höchsten Verkaufszahlen und der größten Rezeption entweder Ratgeber oder seichte Romane sind.

Aber Lesen ist nicht gleich Lesen und es gibt gravierende Unterschiede zwischen dieser Art von Büchern und einer „gehobenen“ Art von Literatur (siehe auch: Über das Lesen 02).

 

Denn die heute meist gemiedene „ernste“ Literatur spricht unseren Geist und unsere Seele auf einer „höheren“ Ebene an, als es diesen Büchern möglich ist. Sie beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen des menschlichen Seins und mit den Gedanken und Träumen unserer Kultur auf höchstem sprachlichen Niveau, und erst dadurch wird es ihr möglich, neue Einsichten in die Welt und unser Menschsein zu vermitteln.

 

Es ist alles nicht so schlimm, denn im Netz wir mehr gelesen als jemals zuvor.

 

Eine weitere Hoffnung an die sich viele, auch Gebildete, klammern ist die, dass alles nicht so schlimm ist, da im Netz mehr gelesen und geschrieben wird als jemals zuvor.

Doch die Unterschiede zwischen einem Buch und den modernen Medien sind so gravierend, dass sich diese Haltung bei genauerem Hinsehen als Trojanisches Pferd entpuppt.

 

Denn ein Buch hat eine gewisse logische Form wie es Gedanken und Erzählungen strukturiert und formt deshalb den menschlichen Geist in eine für unsere Kultur typische Richtung. Das Schreiben in den sozialen Medien hingegen, und darauf beschränkt sich die Internetnutzung der meisten Menschen, ist in seinem endlosen Hin und Her unstrukturiert wie ein Gespräch und befeuert dadurch eine Art des Denkens, das unsere Gesellschaft auf eine frühere Stufe der Entwicklung treiben wird.

Deshalb kann es das Buch weder ersetzen noch seinen Verfall aufhalten, sondern trägt im Gegenteil massiv zum Untergang unserer Buchkultur bei.

 

Das Buch hat seine Deutungshoheit verloren.

 

Die bedeutendste Veränderung besteht jedoch darin, dass das Buch nicht mehr das primäre Mittel ist, durch das unser Geist geprägt wird.

Das liest sich so leicht und scheint eine unbedeutende Tatsache zu sein. Aber in Wirklichkeit ist das weit dramatischer und hat weitreichendere Konsequenzen, als es den meisten Menschen bewusst ist.

Denn alles, was wir heute als unsere großen Errungenschaften auf gesellschaftlicher, menschlicher und künstlerischer Ebene ansehen, hat seine Wurzeln in einer Zeit, in der am Buch gebildete Menschen, Menschen mit einem an Büchern geschärften Geist, die Deutungshoheit über unsere Welt besaßen.

 

Bedingt dadurch, dass wir diese Aufgabe immer stärker den elektronischen Medien überlassen und diese eine andere Art von Gedanken und den Umgang mit Wissen befördern, verändern sich unsere Art zu denken und auf längere Sicht auch unsere Überzeugungen und Werte.

Das ist die beängstigende Entwicklung, die wir zur Zeit beobachten. Eine Entwicklung, die massiv an den Grundfesten unserer Kultur rüttelt und die fähig ist, sie schlussendlich zum Einsturz zu bringen.

 

Vielleicht eine Lösung

 

Ich will aber diesen Beitrag nicht ganz so unversöhnlich ausklingen lassen.

 

Wir besitzen heute noch viele am Buch gebildete Menschen, die fähig wären, einen Schritt zurückzugehen und die dadurch die Möglichkeit hätten, diese Entwicklung einzudämmen und ihre schlimmsten Auswirkungen zu verhindern.

Dazu wäre es aber nötig, dass wir uns dem Problem stellen, ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sich unsere Gesellschaft massiv zum Schlechten wandelt, wenn wir das Denken am Buch verlieren und dass genau das zur Zeit passiert.

Und dass wir, wenn wir das Beste aus unserer Kultur retten wollen, wieder zu Lesern im wahrsten Sinne des Wortes werden müssen, damit wieder eine hinreichend große an Büchern gebildete Schicht entsteht.