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„Ich habe die Toten in den Särgen damals angesehen“

Veröffentlicht am 22.06.2015 | Lesedauer: 8 Minuten
„Mein Vater verkörperte eine verlorene Generation des vorigen Jahrhunderts“: Ralf Rothmann, Jahrgang 1953, wuchs im Ruhrgebiet auf„Mein Vater verkörperte eine verlorene Generation des vorigen Jahrhunderts“: Ralf Rothmann, Jahrgang 1953, wuchs im Ruhrgebiet auf

„Mein Vater verkörperte eine verlorene Generation des vorigen Jahrhunderts“: Ralf Rothmann, Jahrgang 1953, wuchs im Ruhrgebiet auf
Quelle: KEYSTONE/LA


In seinem neuen Roman erzählt Ralf Rothmann von seinem wortkargen Vater, den man nicht alles fragen durfte. Ein Gespräch über einfache Leute und das Kriegstrauma, das die nächste Generation erbt.

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Die langen Haare zurückgekämmt, die Lippen von „vornehmer Sinnlichkeit“, aber seine Schönheit ist ihm ja selbst kaum bewusst: „und falls sie ihm doch einmal aufgefallen wäre, so hätte er ihr vermutlich nicht geglaubt“. So beschreibt Ralf Rothmann seinen Vater, aber wer gleichzeitig das Autorenfoto mustert, dem springt das Erbe, die Ähnlichkeit dieser Beschreibung ins Auge. Eben darum, um das, was wir von unseren Vorfahren erben, kreist Rothmanns neuer Roman „Im Frühling sterben“: die Traumata, die unser Leben ebenso bestimmen wie ein schönes Gesicht. Das Schweigen, das (sinnliche, vornehme) Lippen mit eigenen Geschichten erst brechen müssen.

Die Welt: Sie haben Literatur einmal einen „Freiraum für Träume“ genannt, „an dem man von Herzen ungestraft lügen kann und am Ende, wenn es gut geht, doch die Wahrheit gesagt hat“. Gilt das auch für Ihren neuen Roman, der autobiografisch beginnt und endet – und in der Mitte eine Kriegsgeschichte erzählt?

Ralf Rothmann: Das eigentliche Zentrum des Buches war ein Vakuum, das mein Vater bei mir als Kind hinterlassen hat, als ich ihn fragte, ob er denn im Krieg auch geschossen habe. Er schaute ganz verdattert meine Mutter an und fragte: Was soll ich denn jetzt darauf antworten? Und meine Mutter sagte zu mir: Los, geh dein Zimmer aufräumen. Mein Vater verkörperte eine verlorene Generation des vorigen Jahrhunderts. Mit 18 noch in den Krieg gegangen, auf allen Vieren herausgekrochen, an Körper und Seele verletzt. Dann nochmal verpulvert im Wirtschaftswunder, als schwer arbeitender Bergmann unter Tage, 30 Jahre lang. Und dann mit 55 kaputtgearbeitet, frühverrentet, mit 60 schwerer Alkoholiker, mit 61 tot.

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Die Welt: Was für ein Verhältnis hatten Sie zu ihrem Vater?

Rothmann: Ich liebte und bewunderte ihn, gerade auch wegen der oft bedrückenden Traurigkeit, die von ihm ausging. Er hat die Welt nicht verstanden: Als Zwangsrekrutierter der Waffen-SS fühlte er sich als Opfer, wurde aber nach dem Krieg als Täter betrachtet. Wie soll ein 18-Jähriger, der nie gelernt hat nachzudenken, damit umgehen? Er war ein sehr wortkarger Mann. Er stammte aus Essen, war zunächst Melker in Norddeutschland, später Bergmann. Er hat sich unter Tage so richtig vergraben und war das, was man einen Wühler nannte. Im Urlaub – wir fuhren nie weg – saß er am Küchentisch, trommelte mit den Fingern und sagte, hoffentlich ist dieses Nichtstun bald vorbei.

SIE HAT UNS NUR GEPRÜGELT, BIS AUFS BLUT. MAN KANN SO EINE PERSON NICHT LIEBEN

Die Welt: Wie war Ihre Beziehung zu Ihrer Mutter?

Rothmann: Distanziert. Sie hat uns nur geprügelt, bis aufs Blut. Man kann so eine Person nicht lieben. Ich hasse sie nicht. Aber ich bin ihr auch nie nahegekommen. Zugleich war sie unglaublich lebensfroh, wollte immer tanzen und singen und ist jeden Samstagabend allein, ohne meinen Vater, in die Gaststätte gegangen, hat sogar mal einen Twist-Wettbewerb gewonnen. Viel später erfuhr ich, dass sie schon als 16-Jährige von einem russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Dass man da innerlich erkaltet und die Fähigkeit zum Mitleid verliert, ist natürlich denkbar.

Die Welt: Als Sie fünf Jahre alt waren, sind Ihre Eltern ins Ruhrgebiet gezogen. Inwieweit hat das dortige Milieu Ihr Werk geprägt?

Rothmann: Es war eine wunderbare Grundierung für mein Tun. Doch erst in Berlin fing ich an, meine Ruhrgebietsbiografie wirklich wahrzunehmen. Erst dann fiel mir auf, dass das Ruhrgebiet ein unglaublich poetischer Ort war. Die Menschen dort gruben sich den Boden unter den Füßen weg, um die Höhe eines gewissen Lebensstandards zu erreichen. Die Risse in den Häusern, die Bergschäden, das alles ist eine riesige Metapher. Sicher war die häusliche Situation bedrückend, beengend. Aber als Kind hatte ich auch alle Freiheiten der Welt. Für meine Eltern bestand Erziehung darin, zu sagen: Geht raus! Wenn die Glocken läuten, kommt ihr zum Mittagessen. Wenn die Laternen angehen, zum Abendessen. Wir waren auf den Halden, in den Wäldern, in den Kiesgruben, das war das reine Glück.

Die Welt: „Sterne tief unten“ heißt eine Ihrer Kurzgeschichten. Ist das Aufblitzen von Erhabenheit in sehr einfachen Verhältnissen nicht oft ein frommer Wunsch, dass es so wäre?

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Rothmann: Aber eine Sehnsucht hat doch jeder: Dass das, was Wirklichkeit ist, nicht die alleingültige Wahrheit ist. Ein bisschen Metaphysik schleppt jeder mit sich herum. Meine Mutter kam vom Land, hatte keine Bücher gelesen, kaum Schulbildung. Trotzdem sagte sie immer, ohne die Vorstellung eines Gottes könnte sie nicht leben. Alle paar Wochen verschwand sie im Beichtstuhl, das war ihre Sünden-Waschmaschine. Die katholische Kirche ist da ja auch praktisch.

ER WURDE VOR DIE ALTERNATIVE GESTELLT: ENTWEDER DU SCHIESST, ODER DU STELLST DICH SELBST MIT AN DIE WAND. DIE GESCHICHTE HAT MICH NIE LOSGELASSEN

Die Welt: Anfang und Ende Ihres Romans verweisen auf ein Bibelzitat, das Ihr Vater, im Roman Walter, mit dem Daumennagel markiert hat: „Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“ Das ist Gottes Urteil über Kain, der seinen Bruder Abel mordete.

Rothmann: Eine leise Andeutung, die vor allem meint: Jeder Krieg ist ein Brudermord. Die Geschichte, dass Walter seinen besten Freund erschießt, ist nicht meinem Vater passiert – jedenfalls soweit ich das weiß. Vor etwa zehn Jahren wollte ich nach Norddeutschland ziehen. Der Vermieter war ein sehr netter Mann, etwa 80 Jahre alt. Wir kannten uns vielleicht eine halbe Stunde, haben Tee getrunken und ich habe den Mietvertrag unterschrieben. Und da erzählte er mir: Ich musste im Krieg meinen besten Freund erschießen. Später habe ich mitbekommen, dass er das jedem erzählt. Natürlich wollte er hören, was jeder dann auch sagte: Was solltest du machen, das war der Krieg. Er wurde vor die Alternative gestellt: Entweder du schießt, oder du stellst dich selbst mit an die Wand. Die Geschichte hat mich nie losgelassen, ebenso die Frage, wie ich mich verhalten hätte. Ich hoffe, das ist auch die Frage, die das Buch am Ende jedem Leser stellt.

Die Welt: Kann Literatur das Leben ändern, die Welt verbessern?

Rothmann: Klingt pathetisch, aber natürlich ist das möglich. Das habe ich am eigenen Leib, an eigener Seele erfahren. Ich war ein durchschnittlicher Maurer, der seinen Gebrauchtwagen abstotterte, und ich dachte, jetzt geht es so weiter wie bei allen anderen auch. Jetzt werde ich mir eine Schrankwand und eine Sofagarnitur kaufen, irgendwann eine Frau heiraten, Kinder kriegen. Und dann kam die Begegnung mit Literatur, mit Albert Camus und Hermann Hesse. Das war eine Offenbarung und hat mir Dimensionen eröffnet, die ich vorher nicht für möglich gehalten hatte. Und deswegen glaube ich, dass Literatur das persönliche Leben ändern kann. Dadurch verändert man dann vielleicht sogar die Welt, wenn man ein persönliches Leben auch nur ein wenig nachdenklicher macht.

Die Welt: Ihr neuer Roman dreht sich ums Sterben.

Rothmann: Ich bin schon früh mit dem Tod in Kontakt geraten, mein Großvater hatte ein Beerdigungsinstitut. Mein Vater half ihm am Wochenende, und ich durfte mitfahren. Die hatten so einen riesigen Ford Mercury als Leichenwagen mit unglaublichen Haifischheckflossen. Und ich habe mir die Toten in den Särgen damals sehr genau angesehen.

Die Welt: Ihr Roman thematisiert auch, inwieweit Traumata vererbbar sind. Sie zitieren aus dem Buch Ezechiel: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“

Rothmann: Das ist ebenfalls autobiografisch. Seit ich meine Träume überhaupt wahrnehme, habe ich diesen Traum, erschossen zu werden. Von einem Mediziner erfuhr ich, dass es die Vererbung von Traumata gibt, dass diese sich sogar in Zellen manifestieren. Mein Vater ist in den letzten Kriegsmonaten in Ungarn gewesen, wahrscheinlich hatte er ständige Angst davor, erschossen zu werden.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Suhrkamp, Berlin. 234 S., 19,95 €.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Suhrkamp, Berlin. 234 S., 19,95 €.
Quelle: Suhrkamp Verlag


Die Welt: Ist Schuld ebenso erblich wie ein Trauma?

Rothmann: Was wir vererben sollten, ist die Verantwortung, Sorge dafür zu tragen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Mein Vater ist zwar hineingeraten in die Zeit, aber er war kein Nazi, hat nach dem Krieg zeitlebens SPD gewählt. Und es war für ihn selbstverständlich, dass ich nicht zum Militär ging: „Du verweigerst doch hoffentlich, oder?“ Klar habe ich das.

Die Welt: Sie haben sich einer akademischen Laufbahn verweigert, nie studiert – reut Sie das?

Rothmann: Nein. Ich habe es immer als Glück empfunden, dass ich durch meine Jobs so viele verschiedene Milieus kennengelernt habe. Man sollte sich als Autoreine gewisse Pflicht zur Erfahrung auferlegen. Literatur, so wie ich sie verstehe, ist keine intellektuelle Angelegenheit, sondern eine erotische. Man findet nichts heraus, wenn man nur in der Studierstube sitzt. Man muss sich schon aussetzen, sich auf Abwege begeben. Andererseits: Es gibt auch grandiose Stubenhocker, siehe Proust.

Die Welt: Wie ist das, wenn bestimmte Erfahrungen wie Krieg nicht mehr zu machen sind?

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Rothmann: Kein Krieg ist jemals wirklich zu Ende. Im Übrigen verfügt man über Einfühlungsvermögen, die Verbindung hatte ich durch meinen Vater. Übrigens: Ich gleiche meinem Vater, wir sind schon rein äußerlich dieselben. Auf seiner Beerdigung haben mich alle mit seinem Namen angesprochen, das war surreal. Ich habe da sogar seinen schwarzen Anzug getragen, weil ich kein Geld für einen eigenen hatte. Wir gleichen uns vom Naturell her, haben beide ein melancholisches Temperament. Deshalb war es nicht so schwer, mir vorzustellen, wie es damals für ihn war.

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