Bevor wir zu den einzelnen Lesestufen kommen, möchte ich noch einmal kurz über das Lesen im Allgemeinen sprechen und auf den Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Kommunikationsmitteln eingehen. Und ich möchte zeigen, dass Lesen nicht nur eine Kulturtechnik ist, sondern dass es, wie alle Arten der Kommunikation, massiv unseren Geist formt und damit zu den Grundlagen unserer Kultur zählt.

 

Lesen ist nicht gleich Lesen. Dem wird jeder zustimmen, der sich einmal mit Hingabe einem Werk der Literatur gewidmet hat oder der das Gefühl kennt, wenn ein Buch neue Erkenntnisse vermittelt und geistige Räume erschließt, die man nie für möglich gehalten hätte.

Es wird auch jedem aufmerksamen Beobachter auffallen, dass sich diese Erlebnisse viel schwerer vor einem Bildschirm herstellen lassen als hinter einem Buch. Dass sich, wenn man viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt, die Art des Lesens und unsere Reaktion darauf verändert.

Dass es aber auch einen Unterschied macht, ob man eine Geschichte in einem Buch liest oder einer Erzählung lauscht.

Diese Tatsache und die Ursachen dafür sind in zahlreichen Studien belegt.

 

Jahrtausendelang waren Körpersprache, Mimik und das gesprochene Wort die einzigen Möglichkeiten der Mitteilung. Das heißt, Kommunikation spielte sich immer von Angesicht zu Angesicht ab und war fest eingebettet in einen sozialen Rahmen.

Erst vor einer historisch relativ kurzen Zeit wurde dieser Kontext aufgehoben, denn mit dem gedruckten Buch und der Verbreitung der Lesefähigkeit entstand der einsame Leser mit dem Fokus auf das eigene Ich und einer neuen Definition dessen, was man unter Intelligenz versteht.

 

Das war ein Meilenstein in der geistigen Entwicklung der Menschheit, der heute viel zu wenig Beachtung findet. Denn all das, was wir heute als unsere geistigen Errungenschaften ansehen und die Welt, wie wir sie heute kennen, wurde nur möglich durch diese Fähigkeit.

„Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern brachte die radikalste Umwandlung des geistigen Lebens in der Geschichte des Abendlandes mit sich. … Ihre Auswirkungen wurden früher oder später in jedem Bereich menschlicher Tätigkeit spürbar.“ 1

 

Heute erleben wir eine Zeitenwende, denn wir bewegen uns weg von dieser hochentwickelten geistigen Form hin zu einer seltsamen Mischung aus einer mündlichen Kultur und einer banalisierten Schriftkultur.

Wobei das geschriebene Wort immer stärker zurückgedrängt wird und an Bedeutung verliert, denn selbst da, wo noch geschrieben wird, gleicht man sich dem gesprochenen Wort und der Übermacht der Bilder an.

 

Natürlich kann es sein, dass wir gerade die Geburt einer neuen geistigen Hochkultur beobachten.

Aber ich persönlich glaube das nicht und befürchte, dass wir zusammen mit einer differenzierten Lesefähigkeit auch einen Großteil unserer Kultur und unserer Werte verlieren werden.

Heute will ich aber nicht darüber sprechen, sondern nur kurz zeigen, wie das Buch uns und unsere Welt verändert hat.

 

Ältere Menschen, die noch in einer Welt des Buches aufgewachsen, sehen die Unterschiede zu früher deutlich. Vor allem den Unterschied zwischen der Art des Wissens und dem Umgang damit.

Denn Bücher sind Werkzeuge der Kommunikation und wie alle Kommunikationsmittel beeinflussen sie wie man mit Wissen umgeht und was überhaupt zu denken möglich ist.

 

In einer Kultur, in der das Buch das vorherrschende Medium ist, entwickelt sich zwangsläufig eine Form von geordnetem, hierarchisch gegliedertem Denken.

Diese Art des Umgangs mit Gedanken hat sich langsam entwickelt. Aber seit das Buch im 16. Jhdt. seine endgültige Form bekam mit seiner strengen Linearität, seiner Einteilung in Abschnitte und seinem alphabetisch geordneten Register, hat sich auch seine Denkweise durchgesetzt.

 

„Das alles führte zur Reorganisation der Gegenstände, zu einer verstärkten Betonung von Logik und Klarheit und zu einer bestimmten Haltung gegenüber der Autorität von Wissen.“ 2

Das bedeutet, nachdem das Buch zur wichtigsten Quelle zum Verständnis der Welt und des Menschen in ihr wurde, entwickelte es einen massiven Einfluss auf das Denken unserer Kultur.

Denn es gab einen Wertemaßstab vor für die Art und Weise, die eigenen Gedanken zu ordnen. Es wurde ein stärkeres Gewicht gelegt auf Klarheit und Logik der Anordnung. Das heißt, man begann nicht nur über neue Dinge nachzudenken, sondern, noch viel wichtiger, man begann auf eine neue Art über Dinge nachzudenken.

 

Auf diese Auswirkung des Buchdruckes haben viele Autoren hingewiesen, unter anderem Harold Innis, Marshall McLuhan oder die Historikerin Elizabeth Eisenstein:

„Das neue Buchformat und die spezifische Art, wie es Wissen kodifiziert hat dazu beigetragen, das Denken aller Leser, gleichgültig, welchem Beruf sie nachgingen, neu zu ordnen.“ 3

 

Vergleichen wir das bisher gesagte mit anderen Arten der Wissensvermittlung, und zwar unter dem Aspekt des unterschiedlichen Abstraktionsniveaus verschiedener Kommunikationsarten.

Ein Bild ist ein Abbild eines Gegenstandes und daher immer die konkrete Darstellung eines Einzelfalles.

Dagegen ist Sprache eine Abstraktion aus der Erfahrung. Das Wort „Baum“ etwa sagt mehr und weniger aus als der konkrete Einzelfall, auf jeden Fall aber etwas Anderes.

Das Buch ging noch einen Schritt weiter und „schuf eine eigene symbolische Umwelt, erfüllt von abstrakten Erfahrungen. Das erfordert eine bestimmte Art von Bewusstsein, die Fähigkeit zu begrifflichem Denken, geistiger Regsamkeit, Leidenschaft für Klarheit, Folgerichtigkeit und Vernunft.“ 2

 

„Man kann die psychologische Wirkung des Überwechselns der Kommunikation vom Ohr zum Auge kaum überschätzen.“  2

Und, was heute der Fall ist, man kann auch den Rückschritt vom abstrakten Medium Buch zu einem neuen, in diesem Sinne konkreten Medium, in seiner Bedeutung nicht überschätzen.  

 

Denn die neuen Medien ändern die Art, wie wir unseren Geist gebrauchen, massiv, vom Diskursiven zum Nicht-Diskursiven, von der Satzform zur Bildform, vom Intellektuellen zum Emotionalen.

Man muss sich immer bewusst machen, dass Wörter und Bilder unterschiedlichen Diskurssphären angehören. Denn schon das gesprochene Wort ist stets und vor allem eine Idee. Weit mehr noch ist es das in seiner abstraktesten Form, auf einer Buchseite, ohne Möglichkeit der menschlichen Hilfsmittel wie Mimik oder Körpersprache.

 

Manche Autoren wie McLuhan oder Postman bezeichnen Bilder als im kognitiven Sinne „regressiv“, zumindest im Vergleich zum gedruckten Wort. Denn sie fordern eine ästhetische Reaktion und sprechen unsere Gefühle an, nicht unseren Verstand. Daher fordern sie uns auf zu empfinden, nicht zu denken.

„Wer beschreiben will, muss aus dem Besonderen das Allgemeine ziehen, Begriffe bilden, vergleichen und denken. Wo aber bloß mit dem Finger gezeigt zu werden braucht, da verstummt der Mund, da hält die schreibende, zeichnende Hand ein, da verkümmert der Geist.“  4

Diese Unterscheidung erscheint mir bedeutsam, denn sie würde erklären, wieso wir all diese Fähigkeiten in einem erschreckenden Tempo verlieren.

 

Unter anderem kommt es zu einer neuen Definition von Intelligenz, genau, wie es damals beim Übergang von einer mündlichen zu einer schriftlichen Kultur geschah.

Zum Beispiel glauben wir heute, dass es wichtiger ist, wie viel man weiß, als welchen Nutzen man daraus zieht. Wir legen heute größeren Wert auf eine Vielzahl an Informationen und glauben alles durch mehr davon beherrschbar zu machen.

Doch in Wirklichkeit können wir durch diese Überfülle keinen zusammenhängenden Sinn mehr entdecken.

 

„Zusammengenommen stellten die elektronische und optische Revolution eine zwar unkoordinierte, aber mächtige Bedrohung von Sprache und Literatur dar, eine Umschmelzung der Welt der Ideen in eine Welt lichtgeschwinder Symbole und Bilder.“  2

 

Ich hoffe, ich konnte eine leise Ahnung davon geben, wieso sich unsere Kultur in so wichtigen Punkten verändert. Und dass wir uns wieder bewusst machen müssen, wozu das Lesen einmal diente.

Im nächsten Beitrag werde ich versuchen zu definieren, was Lesen ist, wozu man es braucht und wie Lesen auf einer hohen Stufe funktioniert.

 

 

1   Myron Gilmore, „The World of Humanism“
2   Neil Postman, „Wir amüsieren uns zu Tode“
3   Elizabeth L. Eisenstein, „The Printing Age as an Agent of Change“
4   Rudolf Arnheim, „Fernsehen“